Der treue Bote von Oftwennemar. Eine Erzanlung aus alten Tagen Der Burg Mark aon 6eorg ningim Vow. Onur sI o4 VI. Fortsetzung Auch Anna kam häufig zur Ursula, um ihrem gepreßten Herzen Luft zu machen, denn auf dem Lichtberge lagerte seit den Tagen des Fluches Gewitterschwüle. Zwischen ihr und dem Vater war es noch nicht zu einer Aussprache ge- kommen. Er ging scheu und in sich gekehrt seine Wege, war aber nicht unfreundlich gegen seine Tochter, als er merkte, daß sie keinen Trotz zeigte und im Hause alles mit ge- wohnter Pünktlichkeit be- sorgte. Die beiden wohnten, wie der alte Pastor in Mark einst in einer Predigt von ei- nem etwas unverträglichen Ehepaar bemerkte, nicht zu- sammen, sondern nur mit- sammen. Auf solche kleine Unterschiede legte er oft gro- ßen Wert, und daher kam es, daß ihn die für derartige Fein- heiten wenig empfindlichen Markaner oft nicht verstan- den. Seine Messen und Got- tesdienste besuchten sie gern, weil er sie hübsch auszu- schmücken und würdig zu ge- stalten verstand, aber wenn sie eine gute, oder wie sie sag- ten „herzliche" Predigt hören wollten, gingen sie in die Schloßkapelle, wo Paulus am- tierte. Anna fand sich dort regel- mäßig ein. Ihr Vater hatte nach der letzten oben geschilderten Unterredung mit dem Kaplan weder dessen Kapelle, noch die Kirche in Mark gesehen. Augenscheinlich lastete der Fluch bis jetzt zumeist auf ihn, und an Sonntagnachmitta- gen, wenn seine Hausgenos- sen sich in Mark oder anderen nahen Ortschaften vergnüg- ten, konnte er stundenlang unterm Torweg stehen und seine Blicke den Weg zur Burg hinabrichten. Seine Gestalt verfiel, und wenn Anna in sei- ne matten, fast erloschenen Augen sah, krampfte sich oft ihr Herz zusammen in bitte- rem Weh. Von Sigurd hatte sie noch nichts wieder gehört. Wie man sagte, wollte der Graf den Winter über in Kaiserswerth bleiben und erst im Frühjahr nach Mark zurückkehren. So verfloß ein Monat nach dem andern. Der Sommer kam und neigte sich seinem Ende zu. Seine letzten Strahlen glitten über die Erde hinweg, und es schien, als wollten sie den Lichtberger mit sich nehmen. Die Erntearbeiten waren zum- teil beendigt. Was auf dem Ho- fe zu tun war, besorgte Gottjo- hann. Er, der längst über den Stand der Dinge unterrichtet war, litt mit, wenn seine Liebe litt. Die wollte er ihr seine Teil- nahme bezeigen, benahm sich aber dann so unge- schickt, daß er Anna ein Lä- cheln abnötigte, was ihn glücklich machte, obschon er einsah, daß es durch sein Ver- halten hervorgerufen war. Aber er hatte sie doch einmal wieder lächeln gesehen. Der Bauer verbrachte oft ganze Tage auf seinem Zim- mer, durchblätterte alte Ur- kunden und war für niemand zu sprechen. Eines Tages be- schlich ihn eine Ohnmacht. Anna fing ihn in ihren Armen auf und trug ihn mit Hülfe Gottjohanns auf sein Lager. Wie federleicht war der sonst so starke Mann geworden. Erst nach einer Stunde kam er wieder zu sich. Er stöhnte tief auf, und als er die Tochter an seinem Bette sitzen sah, such- te er nach ihrer Hand, die sie ihm gab. Sie merkte bald, daß der Kranke heftig zitterte. Sie beugte sich über ihn und hör- te, wie er bittend sagte: „Anna, sei meine liebe Tochter!" In so herzlichem Tone hatte er lan- ge nicht zu ihr gesprochen, und ein tiefer Jammer erfaßte ihre junge Seele. „0 Gott," schrie es in ihr auf, „warum kann ich seinen Herzens- wunsch nicht erfüllen, wes- halb muß ich ihn so leiden se- hen!" Doch plötzlich fühlte sie eine geistige Kraft in sich er- wachen. Ein Vertrauen auf die Gewißheit der göttlichen Füh- rung, wie es der Kaplan ihr ge- wünscht hatte, erfüllte ihr Herz, und unter Schluchzen erwiderte sie: „Vater, ich will es sein, ich werde nach dei- nem Willen handeln!" Da drückte der Alte noch einmal ihre Hand und hielt sie so lan- ge fest, bis sie sie ihm leise entzog. Am folgenden Tage finden wir Anna bei ihrer Freundin Ursula, der Schwester des Ka- plans. Sie hatte die Last, die ihr Herz bedrückte, nicht al- lein zu tragen vermocht, sie mußte die Getreue zu ihrer Vertrauten machen. Das war nun geschehen und es herrschte eine ernste Stille in dem geräumigen Gemache. Anna war auf einen Fußsche- mel gesunken, ruhte mit dem Kopfe, unter den sie den rech- ten Arm geschoben hatte, auf Ursulas Schoß und sah mit verweinten Augen träumend in eine öde Zukunft. Da trat der Kaplan ein und blieb er- staunt vor dem schönen Bilde stehen, das sich seinen Blicken darbot. Ursulas Hän- de lagen auf Annas blondem Kopfe; ihr Oberkörper hatte sich ein wenig nach vorn ge- neigt, als wolle sie damit die Trauernde schützen, deren junge, schlanke Gestalt sich lieblich an die ältere Freundin schmiegte, gleich einem hülf- losen Kinde, das bei der Mut- ter Schutz sucht. Der Kaplan wollte sich wie- der zurückziehen; aber Anna war bereits aufgesprungen und bat ihn, näher zu treten. „Herr Kaplan," sagte sie, „ich habe meinem Vater zugesagt, seinen Wunsch zu erfüllen. Der liebe Gott weiß, wie schwer es mir wird. Aber ich kann meinen Vater nicht län- ger leiden sehen, imd ich fühl- te gestern plötzlich die Kraft in mir, mein Lebensglück für ihn zu opfern. Nur ein Gedanke peinigt mich noch. Was wird Sigurd von mir denken? Er wird meine Handlungsweise nicht begreifen, denn der Weg des Entsagens unserer eige- nen Wünsche und des Gehor- sams gegen Gott ist ihm bis- her fremd geblieben." Der Ka- plan hatte ihr bewundernd zu- gehört. „Anna," erwiderte er, „du wanderst auf rechtem Pfa- de. Gott ist allmächtig und lei- tet die Herzen der Menschen wie die Wasserbäche. Wenn wir ihn ernstlich darum bitten, kann er auch Sigurds Sinn mit Verständnis erfüllen und so lenken, daß er dir nicht grollt. Gehe du den Weg der Pflicht und unterwirf dich dem Willen Gottes im Vertrauen auf seine übergroße Liebe und Barm- herzigkeit. Mache es, wie Ab- raham, der bereit war, sein Liebstes herzugeben, um Got- tes Gebot nachzukommen. Aber Gott wollte nur Abra- hams Gehorsam und Glauben prüfen. Sein Liebstes hat er ihm gelassen und ihn oben- drein tausendfältig gesegnet." Beide nahmen während die- ser Worte in der Nähe Ursulas Platz, und Paulus fuhr fort: „Gott hat es in der Hand, den Menschen glücklich zu ma- chen, falls dieser einen guten Willen zeigt. Meistens wird der Mensch unglücklich, wenn ihn Gott seinem Schicksale oder, wie man allgemein sagt, dem Zufall überläßt. Dann folgt der Mensch seinen meist niedrigen Instinkten und macht sich oder andern über kurz oder lang das Leben zu einer Qual. Obergibt er sich aber Gott, und bestrebt sich, in allen Dingen Gott zu gehor- chen und sein Gesetz zu erfül- len, so ist er dem Zufall nicht mehr unterworfen. Dann be- kümmert sich Gott um ihn auch in den kleinsten Dingen, und es geschieht hinfort nichts mehr, was der Liebe und dem Willen des Höchsten zuwiderläuft. Beugst du dich also jetzt unter das vierte Ge- bot, ehrst du deinen Vater, in- dem du, dich selbst und deine Wünsche verleugnend, dich seinen sicher in bester Ab- sicht getroffenen Anordnun- gen fügst, so wird Gott dein Schicksal in seine allmächtige Hand nehmen, und es wird sich alles in Zeit und Ewigkeit zu deinem Besten gestalten. Gott läßt seine Kinder oft wun- derbare Wege gehen, aber sie führen alle zu einem herrli- chen Ziele, so verworren und dunkel sie auch dem mensch- lichen Verstande erscheinen mögen." Anna ging getröstet von der Burg. Wie wohl wares ihr doch immer in der Nähe dieser bei- den 'herrlichen Menschen! Mit ihnen vereint hatte sie den Mut, eine ganze feindliche Welt in die Schranken zu for- dern. Aber wenn sie wieder al- lein war und sich Zweifel ihrer Seele bemächtigten, die ja nie ausbleiben, dann merkte auch sie, daß der Prophet recht hat, wenn er sagt: „Das menschli- che Herz ist ein trotziges und verzagtes Ding!" (Fortsetzung folgt) 13